Vergeben und Vergessen? Vergangenheitsdiskurse nach Besatzung, Bürgerkrieg und Revolution / Pardonner et oublier? Les discours sur le passé après l’occupation, la guerre civile et la révolution

Vergeben und Vergessen? Vergangenheitsdiskurse nach Besatzung, Bürgerkrieg und Revolution / Pardonner et oublier? Les discours sur le passé après l’occupation, la guerre civile et la révolution

Organisatoren
Werner Paravicini (Deutsches Historisches Institut Paris); Reiner Marcowitz (Technische Universität Dresden)
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
14.05.2007 - 15.05.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Brandt; Eric Burkart; Enrico Wagner

Wie geht man mit der Geschichte um? Wie wird sie aufgearbeitet? Wie verarbeitet? Ob nach Besatzung, Krieg oder Revolution, immer spielt die nachfolgende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine wichtige Rolle. Der Diskurs über die Geschichte bestimmt den Umgang mit ihr. Werner Paravicini (Deutsches Historisches Institut Paris) und Reiner Marcowitz (Technische Universität Dresden) organisierten zu diesem Thema eine zweitägige Tagung mit dem Titel „Vergeben und Vergessen. Vergangenheitsdiskurse nach Besatzung, Bürgerkrieg und Revolution / Pardonner et oublier? Les discours.sur le passé après l’occupation, la guerre civile et la révolution“, deren besonderer Reiz in der Fülle der untersuchten Fallbeispiele aus mehreren Jahrhunderten und unterschiedlichen Kulturkreisen lag.

Eröffnet wurde die Tagung von Étienne FRANÇOIS, der zunächst das weite Forschungsfeld „Erinnerung und Gedächtnis“ strukturierte und erste Einblicke in die Thematik gab. Im Hinblick auf Vergangenheitsdiskurse nach Krieg, Besatzung und Revolution identifizierte er drei mögliche Formen zur Verarbeitung kriegerischer Vergangenheit: eine dominierende Rhetorik des Siegers über Wahrheit und Gerechtigkeit, eine Abrechnung mit der Vergangenheit durch juristische Prozesse gegen die Besiegten sowie die Aushandlung von Kompromissen nach der Beendigung von Konflikten ohne klaren Sieger – dieses eine Form der Bewältigung, die häufig auf Schweigen und bewusstes Vergessen hinausläuft. Damit war die Fragestellung der Konferenz umrissen, die dann im Mittelpunkt der folgenden Vorträge stand.

Der erste Referent, Olivier CHRISTIN, analysierte die Entwicklung in Frankreich nach den Religionskriegen: Die (Kriegs-)Verbrechen wurden mittels des Gnadenrechts, das der französische König, laut Christin, in starkem Maße als politisches Mittel einsetzte, relativ schnell amnestiert. Einen ähnlichen Vorgang schilderte Claude GAUVARD in ihrem Referat zur Situation in Frankreich nach dem Hundertjährigen Krieg. Sehr anschaulich verdeutlichte sie, wie König Karl VII. nach Ende des Krieges mit so genannten Lettres d’Abolition systematisch individuelle und kollektive Amnestien gewährte, um sich so in erster Linie die Treue seiner Untertanen zu sichern und damit die eigene Machtposition zu stärken. Durch politische Unterwerfung, so Gauvard, gewann das Gehorsam wieder an Macht und wurde zur unerlässlichen Kehrseite der Vergebung und des Vergessens.

Die zweite Sektion der Tagung beschäftigte sich mit der Restauration in verschiedenen europäischen Staaten. Den Anfang machte Bernard COTTRET mit einem Vortrag zur englischen Restauration 1660-1689. Anders als es manche erhofft hatten, entwickelte sich nach dem Bürgerkrieg, der Diktatur Cromwells und der Wiedereinführung der Stuart-Monarchie eine gespaltene Gesellschaft in England, die sich vor allem an Religionsfragen entzweite. Neben die klassische Bruchlinie zwischen Anglikanern und Katholiken trat nun auch noch die Rivalität zwischen Anglikanern und so genannten Dissenters.

Reiner MARCOWITZ relativierte im anschließenden Referat zur französischen Restauration die weit verbreitete Ansicht, Ludwig XVIII. habe 1814/15-1824 eine erfolgreiche Vergangenheitspolitik betrieben: Der zunächst ausgesprochene Generalpardon wurde bereits frühzeitig durch verschiedene andere Maßnahmen konterkariert, wie beispielsweise den „weißen Terror“ und die Säuberung der Verwaltung nach der Hundert-Tage-Herrschaft Napoleons I. Daher gelang es Ludwig XVIII. nicht, Frankreich im Umgang mit der Vergangenheit zu einen, was laut Marcowitz allerdings weniger auf ein persönliches Versagen des Monarchen als vielmehr auf strukturelle Gründe zurückzuführen war: Seit der Französischen Revolution war nämlich eine rege, kontrovers debattierende politische Öffentlichkeit entstanden, die ein Beschweigen der Vergangenheit zum Zwecke der inneren Aussöhnung unmöglich machte. Daraus entwickelte der Referent die auch im weiteren Verlauf der Tagung präsente These, dass bereits im Frankreich des 19. Jahrhunderts – im Vorgriff auf die pluralistischen Gesellschaften des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts – Erinnerungsvorgaben „von oben“ nicht mehr durchsetzbar gewesen seien.

Volker SELLIN behandelte im Kontrast hierzu die italienische Restauration im 19. Jahrhundert. Im Vergleich zu den anderen Beiträgen kam er dabei gleich in zweifacher Hinsicht zu einem überraschenden Ergebnis: Zum einen markierte diese Epoche auf der faktischen Ebene nur die Ersetzung der napoleonischen Militärdiktatur durch den Absolutismus der vormaligen Herrscher. Zum anderen war die italienische Restauration nicht Teil eines Vergangenheitsdiskurses. Vielmehr wurde der Umgang mit ihr auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtet. Die im Wiener Kongress sanktionierte Neuordnung Italiens und die damit verbundene Aufrichtung einer österreichischen Hegemonie über die Halbinsel führten zu einer gegen Österreich gerichteten Freiheits- und Nationalbewegung. Erst nachdem 1866 die Herrschaft Österreichs über Italien gebrochen war, habe man nach einer Bereitschaft zum „Vergeben und Vergessen“ fragen können.

Den zweiten Tag des Kolloquiums eröffnete Jörg NAGLER mit seinem Vortrag zum Umgang mit dem Sezessionskrieg in den USA. Der Vergangenheitsdiskurs über den Amerikanischen Bürgerkrieg ist noch immer nicht abgeschlossen und beschäftigt nach wie vor die amerikanische Gesellschaft. Neben der Frage nach den Rassenbeziehungen und den Problemen der Reintegration führte insbesondere die Schmach der bedingungslosen Kapitulation zur Verklärung der eigenen Vergangenheit in den Erinnerungsdiskursen des Südens. Mit dem Axiom von der so genannten Lost Cause wurde eine kulturelle Überlegenheit des Südens und eine regelrechte Südstaaten-Identität konstruiert, die sich auch heute noch, so Nagler, etwa im regelmäßigen Hissen der Konföderiertenflagge niederschlage.

Im letzten Teil der Konferenz begann Marc Olivier BARUCH mit einem Beitrag zu Frankreich nach der Libération. Er ging zunächst auf den gaullistischen Mythos ein, der den Widerstandskampf der Franzosen universalisierte und die gesamte Nation in die Résistance einschloss. Baruch behandelte besonders das Bemühen in Frankreich, unkontrollierte Säuberungen zu vermeiden, staatliche Autorität wiederherzustellen und etwaige Kollaborateure vor ordentliche Gerichte zu stellen, um so die Befriedung der Gesellschaft herbeizuführen und die verletzte nationale Identität zu heilen.

Abschließend sprach Walther BERNECKER über den Vergangenheitsdiskurs in Spanien nach dem Bürgerkrieg und der jahrzehntelangen Franco-Diktatur: Während unter dem Franco-Regime ein Diskurs der Sieger des Bürgerkriegs die Szenerie beherrschte, wurde nach dem Ende der Diktatur zumindest von offizieller Seite die Forderung nach Schlussstrich und Versöhnung laut. Erst seit Beginn des neuen Jahrtausends, also rund ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Diktatur, entwickle sich in Spanien, so Bernecker, eine neue Popularität des Erinnerns. Die in der Erinnerungsforschung häufig thematisierte Frage, ob ein solcher Generationenabstand nötig sei, um schmerzhafte Ereignisse der Vergangenheit offen behandeln zu können, wurde dementsprechend auch in der anschließenden Debatte lebhaft diskutiert.

Jean-Noël JEANNENEY und Alfred GROSSER fassten schließlich die Themen und Probleme der Konferenz nochmals zusammen und brachten ihre Gedanken in die Diskussion ein. Beide hoben die wichtige und auch ambivalente Aufgabe von Historikern im Diskurs über die Vergangenheit hervor. Während Jeanneney von Fachhistorikern staatsbürgerliche Verantwortung einforderte und nicht nur die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit, erinnerte Alfred Grosser an die moralische Dimension der Geschichtswissenschaft. Daraus entwickelte sich eine angeregte Debatte über die Funktion von Historikern, in der einerseits dazu aufgerufen wurde, die eigenen moralischen Vorstellungen zu vertreten, andererseits aber auch keine moralisierende Geschichte zu schreiben, sondern sich den historischen Ereignissen zunächst sine ira et studio zu nähern – eine Forderung, die gerade auch angesichts der oft stark emotional geführten Vergangenheitsdiskurse wichtig schien.

Die Beiträge der Konferenz werden in einem Sammelband veröffentlicht.